Zum Ursprung und der Entwicklung des Schachspiels – Über viele Jahrhunderte hinweg stellte die Frage nach dem Ursprung des Schachspiels ein heiß umstrittenes Rätsel dar.
Über viele Jahrhunderte hinweg stellte die Frage nach dem Ursprung des Schachspiels ein heiß umstrittenes Rätsel dar. Stellvertretend für viele mehr oder weniger phantastische Spekulationen sei hier die Theorie genannt, das Schachspiel sei von einem griechischen Helden wie Palamedes oder dem listenreichen Odysseus während der Belagerung von Troja ersonnen worden. Erst im 20. Jahrhundert pendelte sich der Kompaß der Forscher eindeutig auf ein ebenso großes wie geheimnisvolles Land ein:
Im Norden Indiens, bei der Stadt Kanauj, ist wohl etwa im sechsten Jahrhundert nach Christus das Schachspiel in seiner Urform entstanden. Dabei war es wohl ursprünglich keineswegs als Spiel gemeint, es diente vielmehr als Strategietraining für die indischen Könige, die ihr Heer als Angehörige der Kriegerkaste zumeist selbst als Feldherren in die Schlacht führten.
Tatsächlich zeigt die bis heute unveränderte Anordnung der Figuren am Anfang einer Partie eine typische Formation des alten indischen Heeres. Dabei gelang es dem oder den Erfindern des Schachspiels auf magische Weise, die Fähigkeiten der verschiedenen Truppenteile durch die Regeln in Schachfiguren zu bannen.
Die weiten, geraden Bewegungen des Turms stehen für den von Pferden gezogenen Streitwagen, von dem aus Bogenschützen die Gegner mit Pfeilen überschütteten.
Die Wendigkeit und der mögliche Überraschungseffekt der Reiterei ist durch den eigentümlichen Zug des Springers eingefangen.
Der Läufer, dessen Zugweise sich allerdings im heutigen Schach verändert hat, steht für die Kraft der Kampfelefanten.
Eine Dame oder Königin gab es im alten indischen Heer nicht, ihr Vorläufer war der Berater des Königs, eine relativ kampfschwache Figur, da dieser zumeist ein Brahmane und Angehöriger der Priesterkaste, dem das Kämpfen und Töten untersagt war.
Kaum Erläuterung benötigen der König selbst, dessen Fall als oberster Feldherr auch den Untergang des Heeres bedeutete, sowie die Bauern, die natürlich für das einfache Fußvolk stehen.
Das so geschaffene Abbild der Realität gehört zu den großen intellektuellen Leistungen der Menschheit und so trat das Schachspiel von Indien aus ab dem siebten Jahrhundert nach Christus seine Reise um die Erde an.
Dabei stellte es in seiner weiteren Ausformung stets einen Spiegel menschlicher Kultur dar und bildete verschiedene Entwicklungen in Wissenschaft, Kunst und Politik ab, für die ich in der Folge nur ein paar besonders markante Beispiele nennen will.
Zunächst erreichte das Schach mit Persien (Schah mat bedeutete im alten Persien einfach »Der König ist tot«) und Arabien muslimische Länder, wo die bildliche Darstellung von Lebewesen verboten war. So entstanden abstrakt geformte Figuren, die später in Europa bezüglich der ursprünglichen Bedeutung für manche Verwirrung sorgten.
Die Engländer interpretierten die stilisierten Stoßzähne des Elefanten als Bischofsmütze und benannten folgerichtig diese Figur als bishop. Die Franzosen hingegen sahen in den Stoßzähnen eine Narrenkappe, so wurde dort der Name fou für die in deutschsprachigen Ländern aufgrund ihrer Fähigkeiten als Läufer bekannten Figur geprägt. Und nur in Russland blieb mit slon (слон), dem Elefanten, seine »wahre Natur« erhalten.
Im Mittelalter fand das Schachspiel von Spanien aus weite Verbreitung, zunächst wurde es zu einem Abbild der Ständegesellschaft, später gar ein Liebessymbol aus dem Bereich der Minnewerbung, wovon zahlreiche Abbildungen von schachspielenden Paaren aus dieser Epoche zeugen.
Die Renaissance brachte auch dem Schach eine stürmische Entwicklung, dem europäischen Zeitgeist angepasst wurden wesentliche Regeländerungen vollzogen, die das Schach dynamischer, schneller und noch inhaltsreicher machten. So setzten sich die Rochade, der Doppelschritt des Bauern im ersten Zug und eine Aufwertung des Läufers durch.
Die erstaunlichste Karriere aber war dem bis dahin so schwachen Berater des Königs, der in Persien als Wesir bekannten Figur, beschieden:
Er wurde zur mächtigen Dame oder Königin, der mit Abstand stärksten Figur auf dem Schachbrett! Verantwortlich dafür war wohl die zunehmende Macht der Frauen in der Politik, entscheidende Rollen spielten dabei die Heldentaten auf dem Schlachtfeld der Jeanne d’Arc sowie die große Bedeutung der spanischen Königin Isabella von Kastilien. So stellt die neue Schachkönigin wohl eine Huldigung an die Kraft der Frauen dar!
Besonders dramatisch verlief in Bezug auf das Wechselspiel von Schach und Politik das 18. Jahrhundert, die Zeit der »Aufklärung«. Der große französische Schachmeister und Opernkomponist André Danican Philidor verkündete um 1750 in einem auch von vielen damaligen Philosophen und »Aufklärern« wie Voltaire, Diderot und Rousseau gelesenen Buch L’analyse des écheques seine damals gänzlich neuen Ideen vom Bauern als größter Kraft auf dem Schachbrett. Und ein paar Jahrzehnte später ergriff während der Französischen Revolution tatsächlich das einfache Volk die Macht und bot dem König auf grausame Weise »Schachmatt«!
Begeben wir uns mit einem gewaltigen Sprung ins 20. Jahrhundert, wo etwa ab 1930 in der Sowjetunion das Schachspiel besonders gefördert wurde. Ein Grund mag gewesen sein, dass Lenin selbst ein begeisterter Schachspieler war. Man unterrichtete Schach dort an den Schulen, man bewunderte und feierte die großen Schachmeister wie Fußballstars. Gleichzeitig wurden die zahllosen Triumphe der sowjetischen Meister bei internationalen Turnieren benutzt, um die »geistige Überlegenheit« der sowjetischen Kommunisten gegenüber dem »dekadenten« Westen unter Beweis zu stellen.
Doch in den 60er-Jahren betrat der ebenso geniale wie verrückte Amerikaner Bobby Fischer die Szene, ein echter selfmade man und lonesome wolf. Es war die Zeit des »Kalten Krieges« zwischen den Supermächten USA und der Sowjetunion in der er als Einzelkämpfer das gewaltige und bis dahin unbezwingliche sowjetische Schachimperium herausforderte. 1972 kam es in Reykjavík zum großen Duell zwischen Fischer und dem russischen Weltmeister Boris Spasski, bei dem die beiden Schachmeister weltweit als Vertreter ihrer Länder gesehen wurden. Fischers Sieg war ein gewaltiger Triumph für die Amerikaner und eine Katastrophe für die schachbegeisterten Sowjets.
Später wurde die Art wie Schachmeister denken zu einem Vorbild für wichtige Bereiche der Computerentwicklung. Und obwohl moderne Schachprogramme schon mehr als 300 Millionen Züge in der Sekunde berechnen können, halten die besten menschlichen Spieler immer noch Schritt mit ihnen. Sie stellen sich wahren Gladiatorenkämpfen zwischen Mensch und Maschine, die vom objektiven Standpunkt her allerdings kaum Sinn machen, da die Programme zu viele Vorteile auf ihrer Seite versammeln und stets auf das gesammelte Schachwissen der Menschheit zugreifen können.
Heute ist das Schachspiel dabei, sich im Internet zu einem modernen Volkssport zu entwickeln. In virtuellen Schachklubs tragen Zehntausende von Spielern von Sydney bis Nowosibirsk ihre Kämpfe aus, oder folgen gebannt zeitgetreuen Übertragungen bedeutender Großmeisterturniere.
Schach als Gehirnjogging
Vieles deutet darauf hin, dass unser Gehirn, den Muskeln in dieser Hinsicht vergleichbar, regelmäßiges Training benötigt, um seine Leistungskraft zu erhalten bzw. zu steigern.
Abgesehen davon, dass es einfach Spaß macht, die eigene geistige Power zu fühlen und bei Gelegenheit auch zu zeigen, erleichtert ein gut trainierter Geist viele Aufgaben des modernen Lebens. Für alle Bereiche, wo geplant, organisiert und strukturiert werden muss, aber auch für effektive Entscheidungsfindung oder einfach nur zur Stärkung der Gedächtnisleistung stellt regelmäßiges Schachspielen ein ideales »Gehirnjogging« dar. Diese These wird durch aktuelle wissenschaftliche Studien zur gefürchteten Alzheimererkrankung untermauert:
Als Fazit einer im Fachblatt »Jama« der amerikanischen Medizinervereinigung veröffentlichten Studie von Forschern des Rush-Presbyterian–St.Lukes Medical Centers in Chicago senkt mehrmals wöchentlich betriebener Denksport das Alzheimer-Risiko um bis zu 47 Prozent! Hierbei arbeiteten die Mediziner in ihrem Versuchsaufbau mit verschiedenen Methoden des geistigen Trainings wie Zeitungs-oder Bücherlesen, Puzzlespielen, Kreuzworträtsellösen, etc.
Offen bleibt hierbei jedoch die optimale Form eines solchen Trainings, werden doch viele der erwähnten Aktivitäten schnell langweilig und sind vom Ablauf her ein wenig monoton.
Neue Erkenntnisse erbrachte eine weitere, spezifischere Studie von Dr. Hermann Buschke aus Bronx im US-Staat New York, die auf die besondere Stellung des Schachspiels hinweist:
Seit Beginn der 80-er Jahre bis 2001 wurde hier das relative Risiko für Demenz in Bezug auf verschiedene Freizeitaktivitäten der Probanden betrachtet.
Als außerordentlich wirksam erwies sich hierbei das Schachspielen, das relative Risiko einer Erkrankung der an der Studie beteiligten Schachspieler im Verhältnis zu »geistig untrainierten« Versuchspersonen lag bei lediglich 26 Prozent, das Alzheimerrisiko wird also durch Schach um 74% reduziert!
Dies scheint mir wenig überraschend, denn die Leidenschaft für die kaleidoskopartige Schönheit des Schachspiels mit seinen immer neuen Kombinationen, seinen Abenteuern und aufregenden Kämpfen kann ein Leben lang begleiten. Auch werden beim Schach alle Aspekte des Geistes von visuellem Vorstellungsvermögen über abstrakte Gedankengebäude bis hin zu intuitiven Einschätzungen gefordert und gefördert! Mit dem Ziehen der Figuren kommt zudem noch eine einfache motorische Komponente ins Spiel.
Darüber hinaus begünstigt die Notwendigkeit eines Partners natürlich menschliche Kontakte. Nicht zu unterschätzen ist dabei der Umstand, dass Menschen unterschiedlichster körperlicher Voraussetzungen von Enkel bis Großvater hier einen gemeinsamen (Denk-)Sport finden. Gerade kranke oder gebrechliche Menschen haben so die Möglichkeit, immer noch ihre Fähigkeiten zu zeigen und einen anregenden Wettkampf auszutragen. Die intensive Beschäftigung mit Schach bedeutet das Eintauchen in eine andere Welt und lässt zumindest in dieser Zeitspanne alle Probleme des Alltags vergessen.
Übrigens kann auch ich selbst als Schachgroßmeister, der seit bald 30 Jahren in der Schachszene aktiv ist, unter prominenten oder mir persönlich bekannten Schachspielern von keinem einzigen Fall einer Form der Altersdemenz berichten.
Die daraus zu ziehenden Schlüsse sind von beträchtlicher Relevanz, leiden doch allein in Deutschland etwa eine Million Menschen an dieser furchtbaren Erkrankung, die neben Gedächtnis-und Sprachverlust zumeist auch Persönlichkeitsstörungen mit sich bringt.
Viel Sinn macht es somit, das Schachspiel ganz gezielt auf breiter Basis als spannendes und anregendes »Gehirnjogging« einzusetzen und so sein Potential als Mittel zur Erhaltung der geistigen Gesundheit zu nutzen!
Schach: Schönheit und Leidenschaft
Nur wenig verraten Brett und Figuren von den Abenteuern, die den Spieler erwarten. Doch kaum sind die ersten Züge getan, erwacht die hölzerne Armee zu magischem Leben.
Der Spieler schlüpft in seine Figuren und betritt einen Dschungel voll knisternder Kraftlinien, die den Wirkungskräften der Figuren und ihren vielfältigen Beziehungen entsprechen. Er fühlt die in der Position schlummernden Möglichkeiten und entwirft seine Pläne, wobei er immer wieder der Intuition vertrauen und den Sprung ins Ungewisse wagen muß. Denn unfaßbar tief ist das Schachspiel für den puren Verstand, mehr mögliche Positionen soll es geben, als Elementarteilchen im bekannten Universum!
Mit den Figuren als Alphabet, den Regeln als Grammatik und den typischen Motiven als Wortschatz ranken sich unzählige Legenden in einer geheimnisvollen Sprache um das Schicksal der beiden Könige.
So erlebt der Spieler ein immer neues Drama, in dem er selbst Hauptakteur ist. Dabei kann der Charakter seiner Geschichte unterschiedlichste Formen annehmen:
Sie mag sich langsam anbahnen und entwickeln wie ein Roman von Dostojewski, kann kurz sein mit knochentrockener Pointe am Ende wie eine Kurzgeschichte von Hemingway oder sich in immer unerträglichere Spannung steigern wie ein Thriller von Mankell.
Kein Wunder, daß hier für den Turnierspieler starke Emotionen wirken, daß der Schweiß rinnt und der Puls manches Mal rast. Wer einmal vom berauschenden Gefühl eines Sieges nach schwerem Kampf gekostet hat, wird es immer wieder durchleben wollen und dafür auch den Schmerz der Niederlage ertragen.
Einzigartig ist aber auch die Beziehung zum Gegner, dessen Zügen der Spieler stets Respekt zollen muß. So können wir eine Schachpartie auch als dialogisches Kunstwerk sehen, einen geistigen Disput. Weiß stellt eine These auf, der Schwarze die Antithese. Das Spiel als Synthese beider Bemühungen ist dann nichts anderes als das gemeinsame Werk zweier Künstler. Und egal, wie grimmig man sich vorher am Brett bekämpft hat:
Mit Niemandem möchte man nach der Partie lieber zusammensitzen und ihre Geheimnisse ergründen, als eben seinem Gegenspieler, denn kein Anderer hat sich so mit dieser Partie identifiziert wie er.
Doch abseits von sportlichem Erfolg liegt im Schachspiel als Kunstform eine eigentümliche und schwer zu beschreibende Schönheit. Eine Ästhetik wie von klassischer Musik, die aber in kristalliner Form vor unseren Augen statt den Ohren erscheint. Es mag sich anfühlen wie ein kleines Erleuchtungserlebnis, wenn sich aus dem Nebel und Chaos einer schwierigen Position plötzlich glasklar die eine wunderbare Idee herausschält. Oder wie nach einer anstrengenden Bergtour, wenn als Belohnung am Ende der Gipfel mit dem Blick in ein atemberaubend schönes Tal lockt. Oft hat aber Schönheit im Schach auch ganz viel mit Humor zu tun, es gibt überraschende, schalkhafte Einfälle und grotesk komische Konstellationen, über die der Schachspieler lacht wie über einen gelungenen Witz.
Es ist eine eigene Welt, die wir in jedem Moment betreten können. Das Tor besteht aus Brett und Figuren, dann noch ein Gegenspieler und die Magie beginnt!